Widmungsschreiben wurden damals gelesen. Sie waren ein wichtiger Bestandteil jener Büchlein, Libretti, die, wie heute Programmhefte an der Theaterkasse, verkauft wurden und Besetzung, Inhalt, Schauplätze der Handlung, erklärende Worte sowie den Text der Oper enthielten. So konnte jeder sehen, dass Il vincitor generoso – so hieß Briani/Lottis Werk – jene Eigenschaften besaß, die der Dichter ihrem Widmungsträger zuschrieb. Das Stück sollte der Welt im Bilde Gismondos die Tugenden Fredericks als die eines großmütigen Siegers kundtun. Und da der uns sonst nur als Autor eines weiteren Opernbuchs (Grundlage für Händels später vertonten Riccardo Primo) bekannte Briani gleich zu Beginn der Widmung betont, es handle sich um seine erste Oper, könnte er sich dem prachtliebenden Monarchen damit als Hofdichter und –historiograf, d.h. als Chef der Königlich Dänischen PR-Abteilung empfohlen haben. Das erklärt die Wahl des Stoffs, die Dramaturgie und den Inhalt des Librettos. Il vincitor generoso ist ein auf den dänischen König abzielendes Propagandainstrument eines Intellektuellen, der aufgrund seiner Jugend und seines Ehrgeizes bemerkenswert unbekümmert mit den Konventionen der Opera seria umgeht. Das macht den Text so ungewöhnlich. Und da sich Leonardo Vinci 20 Jahre später bei seiner Neuvertonung mit Ausnahme der Arien nahezu wörtlich daran hielt, müssen wir seine Subtexte verstehen, um unsere Oper zu verstehen.
Die Absicht von Il vincitor generoso ist das Herrscherlob. Gismondo und Primislao werden uns als Kontrastbeispiele guter und schlechter Herrschaft vor Augen geführt. Deren Kriterien leiten sich aus der Staatsphilosophie der antiken Stoa her. Die Humanisten des frühen 16. Jahrhunderts lasen und interpretierten deren Schriften, insbesondere diejenigen Senecas neu und lösten eine Mode aus, die das Politikverständnis der folgenden zwei Jahrhunderte nahezu alternativlos bestimmte. Da hinter dieser Staats- eine allgemeine Lebensphilosophie als Lehre vom Guten überhaupt steht, war das Beispiel der beiden Herrscher auch für ungekrönte Häupter lehrreich.
Gismondo handelt nach dem stoischen Grundsatz des logos, des rationalen Denkens. Daraus ergeben sich seine Sekundärtugenden constantia, clementia und fortitudo. Wer sich ausschließlich von der Vernunft leiten lässt, handelt einerseits konsequent, also berechenbar, was noch heute als staatsmännische Tugend gilt, wie der Diskurs um den aktuellen amerikanischen Präsidenten zeigt. Andererseits beherrscht er seine eigenen Leidenschaften und spontanen Impulse. Wer dies nicht tut, wird von ihnen wie das Schiff auf stürmischer See von Wind und Wellen haltlos hin- und hergeschleudert, bis Fortuna ihn scheitern oder gnädig in den rettenden Hafen einlaufen lässt. Darauf basiert ein Großteil der Metaphorik in Gismondo: Der Unbeherrschte liefert sich Fortuna aus. Er verliert seine Autonomie. Den Zuschauer sollte/wollte davor gewarnt werden, was der Grund ist, warum die Sturmarie und ihr Korrelat, die Felsenarie (man denke an Fiordiligi in Così fan tutte), in der Barockoper so beliebt waren. Wer Vernunftgrundsätzen folgt, vermag den Zufällen des inneren und äußeren Lebens wie ein Fels in der Brandung standzuhalten. Er beweist constantia (Beständigkeit). Sie ist die Haupttugend der Opera seria. Ihre staatsmännische Entsprechung ist die Zuverlässigkeit. Die Emblematiker des Barockzeitalters, die die abstrakten Lebensregeln der Philosophie in Bildersprache, quasi eine Frühform des Cartoons übersetzten, um ihr Verstehen, Erlernen, Behalten und Anwenden zu erleichtern, und die damit ein riesiges Bildreservoir für Oper, Schauspiel, Malerei und Skulptur schufen, stellten das Bild des Felsens in der Brandung unter das Motto „Immota triumphans“ (Wer ungerührt bleibt, triumphiert.). Das wird uns an Gismondo vorgeführt, denn die Barockoper ist eine Art bewegtes Emblem, ein singendes und klingendes Schaubild. Constantia garantiert dem Herrscher geradezu naturgesetzmäßig den Sieg. Indem Briani dies an Gismondo vorführt, sagt er seinem Widmungsträger den Sieg schmeichelhaft voraus.
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Da Gismondo für Rom komponiert wurde, waren auch die Frauenpartien mit Männern besetzt. Papst Sixtus V. hatte 1588 unter Berufung auf 1. Korinther 14, 34 dekretiert, dass Frauen im Kirchenstaat nicht öffentlich auftreten dürfen. „Es gibt nichts Lächerlicheres“, schreibt Pöllnitz über Vincis Wirkungsstätte, das Teatro delle Dame, „als diese Halbmänner, die Frauen darstellen. Sie wirken weder wie Frauen noch haben sie deren Anmut, und doch jubelt man ihnen zu, wie an anderen Orten den besten Darstellerinnen.“ Vier Jahre nach der Uraufführung von Gismondo fügte er, den Aufführungsstil dieses Theaters beschreibend, hinzu: „Meiner Meinung nach sollte man eine solche Darbietung nicht Oper, sondern Konzert nennen.“
(Editierter Auszug aus Dr. Boris Kehrmanns „Barock- als Gegenwartsoper – Zu Francesco Brianis und Leonardo Vincis Gismondo“.
Vollständiger Text hier.)